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Genuss und Philosophie : Gedankliche Umkreisungen von Matthias Oberländer
Matthias Oberländer, Jahrgang 1961 und "gelernter Philosoph", umkreist die nicht unproblematische Beziehung zwischen Philosophie und Genuss und nimmt uns parallel zu den nächsten 3 Genusslettern mit auf Wege und Trampelpfade zu Fragen, die er sich zum Genießen gestellt hat.
Philosophie und Genuss 1 - Eine problematische Beziehung

Von einem Philosophen verlangt man vielleicht zurecht, dass er sich in fast allem auskennt, eine wohl begründete Meinung besitzt oder zumindest ein paar originelle Gedanken. Danach gefragt, was mir zum Thema Genuss in philosophischer Perspektive einfällt, musste ich dennoch zuerst bekennen, dass ich mit damit bislang wenig beschäftigt hatte. Bei weiterem Nachdenken, glaube ich, dass das nicht nur mit meiner persönlichen Lebensführung, meinem Lifestyle, sondern auch mit dem traditionellen Verhältnis zwischen Philosophie und Genuss zu tun hat. Dieses Verhältnis erscheint mir nicht unproblematisch.

In der Antike, dem Geburtsort unserer abendländischen Philosophie, war das, was wir heute Genuss nennen, weitgehend verfemt, zumindest bei den prominenten Philosophen. Zeigte nicht alle Erfahrung, dass Freude und Genuss immer nur endlich waren, nie zu wahrer Glückseligkeit führten? Philosophie dagegen suchte nach dem Unendlichen, Ewigen, von keinen Meinungen und Launen Abhängigen und in diesem Sinn nach dem Schönen, Wahren und Guten.

Dem philosophischen Übervater Platon galt Irdisches als Welt des Scheins, als Derivat der unvergänglichen Welt der Ideen, der Leib und seine Bedürfnisse als etwas der Erkenntnis Hinderliches, zu Überwindendes. Aristoteles, seinem genialen Schüler, der den platonischen Idealismus weitestgehend ablehnte, ließ – ansich nicht weltfremd und lustfeindlich – als einzig wahren Genuss nur die Erkenntnis des ewig Seienden, des unbewegten Bewegers, gelten; nach späterer christlicher Lesart die Erkenntnis, wenn nicht nur stumme Anbetung Gottes. Als zuvörderst genießenswert galt ab da das „Summum Bonum“ – das höchste Gut, und besonders im Mittelalter hatten die Denker europaweit alle Hände voll zu tun, dieses höchste Gut zu preisen.

Bis heute interessant ist das epikureische Intermezzo. Der Hedonismus wird gerne verkürzt und falsch als philosophische Rechtfertigung hemmungslosen Genusses verstanden. Epikur selbst argumentiert dagegen durchaus differenziert: “Wenn wir also sagen, die Lust sei das Ziel, meinen wir damit nicht die Lüste der Hemmungslosen ..., sondern: weder Schmerz im Körper noch Beunruhigung in der Seele zu empfinden. Denn nicht Trinkgelage und andauernde Umzüge, auch nicht das Genießen von Knaben und Frauen, von Fischen und allem sonst, was die Tafel so bietet, erzeugen das lustvolle Leben, sondern ein klarer Verstand“.

Die Schilderung Epikurs zeigt, dass die alten Griechen es mit dem Genuss durchaus Ernst meinten; die Philosophen verstanden sich angesichts der herrschenden Sitten eher als beredte und selbst berufene Tugendwächter. Immerhin war Epikur weit weniger Lust- und genussfeindlich als die meisten seiner philosophischen Vorgänger und Nachfolger. Die Römer übersetzen einen Leitspruch Epikurs mit der berühmten Tageslosung „Carpe Diem“ – bis zu „Artediem“ war es dann nur noch ein relativ kleiner Schritt.

Es war das aufstrebende europäische Bürgertum, das den Genuss seit dem siebzehnten Jahrhundert philosophisch rehabilitierte und damit aus seiner mittelalterlichen Verdammung durch das Christentum erlöste. Freilich, um ihn, nunmehr als natürliches Bedürfnis ausgegeben, gleich wieder in ihren Dienst zu stellen. Locke schreibt 1689 in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand: „Das Unbehagen wenn etwas nicht da ist, dessen Genuss sich mit der Vorstellung des Vergnügens verbindet, ist das Verlangen; es steigt und fällt, je nachdem dieses Unbehagen wächst oder abnimmt. Ich bemerke hier nebenbei, dass der hauptsächlichste, wenn nicht alleinige Antrieb für den Fleiss und die Thätigkeit der Menschen dies Unbehagen sein dürfte.“

Das Bürgertum schickte sich an, die Welt zu verändern. Dazu brauchte es produktive, wirkliche Menschen, und denen gestanden die Gelehrten nun praktischerweise auch „natürliche“ Bedürfnisse zu. Von einer Verfeinerung und Kultivierung ihres Genusses und der dazu geeigneten Güter, konnten die verarmten Bauern und das nun entstehende Industrieproletariat allerdings nicht einmal träumen.

Der Absolutismus und das „Leben wir Gott in Frankreich“ hatten in Frankreich schon längst ihre besten, dekadenten, Zeiten gehabt (das „Savoir Vivre“ sollte sich bis in unsere Gegenwart als sinnlich-verführerisches Ideal sublimer Genusskultur erhalten). In Deutschland, wo die bürgerliche Revolution mehr in den Köpfen denn auf der Straße stattfand, forderte der protestantische Denker Fichte: Unsere einzige Glückseligkeit für diese Erde - wenn es doch ja Glückseligkeit seyn soll - ist freie ungehinderte Selbstthätigkeit, Wirken aus eigener Kraft nach eigenen Zwecken mit Arbeit und Mühe und Anstrengung.“

Genuss und irdisches Glücksstreben sollten ihre Grenzen finden in einem idealen, weltlichen Reich, in dem das kantische Sittengesetz herrschte und allen – theoretisch – das möglich sein sollte, was dem Einzelnen qua Vernunfteinsicht selbst erlaubt war. Genießen ja, aber nur auf vernünftige Art. Das Individuum hat einen freien Willen, und der kann, muss aber nicht genießen. Eine Ansicht, die dem Materialisten Feuerbach nicht schmeckte: “Wer mir den Wein nur als Arznei erlaubt, verbietet mir den Genuß des Weines“ [ders. Das Wesen des Christentums].

Die auf den deutschen Idealismus folgende „Lebensphilosophie“ rebellierte gegen die Idealisierung menschlicher Praxis und tat dies im Namen einer – wie auch immer zu verstehenden – Natur, des Daseins, der Existenz. Allein, was Genuss ist, warum er erstrebenswert sein soll oder nicht, das blieb auch bei den modernen Denkern von Kierkegaard bis Nietzsche im Dunkeln, und auch die, vorallem von den Lebensphilosophen intendierte, Überwindung des Leib-Seele-Dualismus bleibt bis heute eine philosophische Herausforderung.

Philosophen der Gegenwart haben mit dem Genuss das Problem – um es einmal dialektisch auszudrücken – dass sie mit ihm kein Problem haben und ihn der sich mit menschlichen Dingen auskennenden Psychologie großzügig überlassen. Man mag hierin eine Kapitulation sehen.
Zum nächsten Kapitel


Mit Lust denken
 

Philosophie und Genuss 1 - eine problematische Beziehung 


Philosophie und Genuss 2 - eine systematische Annäherung 


Philosophie und Genuss 3 - eine Ethik des Genusses? 


Genuss als Geographie der Entäußerung - Gedanken von Karin Schlechter